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„Nie Ruhe in dem Laden“: 10–jähriges Jubiläum der Individuellen Hilfen/Schulbegleitung im Schuljahr 2015/16
Interview mit Anne-Katrin Thierschmidt und Jeannette Adomeit
Anne-Katrin Thierschmidt leitet seit Dezember 2008 den Bereich »Individuelle Hilfen/Schulbegleitung«. Dieser bietet neben der Schulbegleitung auch Begleitung in der Freizeit und Erziehungsbeistandschaften an.
Jeannette Adomeit ist seit 10 Jahren als Schulbegleiterin bei QuerWege tätig und damit die »dienstälteste« Kollegin im Team. Sie arbeitet an der Grundschule an der Trießnitz und begleitet dort aktuell »ihr« drittes Kind.
Könnt ihr euch noch an eure Anfangszeit bei QuerWege erinnern?
Jeannette: Oh ja, für mich war das damals, im März 2005, ein großer Schritt, als Schulbegleiterin zu arbeiten. Ich kam aus dem medizinisch-pflegerischen Bereich und hatte zuvor kaum Kontakt mit behinderten Kindern. Integration kannte ich aus meiner eigenen Schulzeit überhaupt nicht. Es ging nach der Bewerbung sehr schnell: Ein paar Tage später war ich schon bei Tasso zu einem 10–minütigen Gespräch eingeladen, dann gab es bei dem Direktor der Trießnitzschule nochmal ein kurzes Kennenlernen und am Montag darauf habe ich schon angefangen mit arbeiten.
Die Trießnitzschule war die erste Schule in Jena, die sich auf das »Experiment« Schulbegleitung eingelassen hat. Obwohl dort schon Kinder integrativ beschult wurden, haben vor allem Zivis die Kinder mit Behinderungen betreut. Zwar wusste niemand, was für konkrete Aufgaben ich übernehmen soll, aber alle waren sehr offen, was mir das Ankommen leicht gemacht hat.
Anne: Für mich war das Thema damals auch sehr neu als ich im Dezember 2008 bei QuerWege angefangen habe. Ich hatte zuvor in Erziehungshilfe, offener Jugendarbeit sowie Jugend- und Erwachsenenbildung gearbeitet. Meine Stelle wurde bei QuerWege ganz neu geschaffen. Bis dahin hat sich Tasso nebenher um die Arbeitsverträge und Abrechnungen gekümmert, das Personal wurde vom Sozialamt ausgesucht. Das war damals Kostenträger nahezu aller Hilfen. Eine richtige Leitung oder Koordination gab es nicht.
Ich erinnere mich noch gut an die Weihnachtsfeier, zu der Tasso mich den damals 25 Schulbegleiter_innen vorgestellt hat. Heute sind es zwischen 65 und 75 in einem Schuljahr, wir suchen alle Mitarbeitenden selbst aus, haben Strukturen geschaffen und es gibt ein Konzept. Ich glaube, das war das erste, was ich aufs Papier gebracht habe.
Jeannette: Ja, die Arbeit der Schulbegleiter_innen war am An-
fang überhaupt nicht festgelegt, es gab keine konkreten Ausbildungen als Voraussetzungen, die Bindung zu QuerWege war kaum da, wir waren nur im jeweiligen Schulteam integriert. Und viele Schulen hatten bis dahin noch nie integrativ gearbeitet.
Wie hat sich der Integrative Unterricht in Jena seitdem entwickelt?
Jeannette: Gut! Aber natürlich war es mitunter problematisch, wenn Schulen das erste Mal mit diesem System in Berührung kamen. Wenn ich jetzt sehe, was die Schulbegleitung für Fortschritte gemacht hat und was für tolle Entwicklungen viele Kinder genommen haben, ist das ein großer Erfolg. Man sieht aber auch, was es für Rückschritte geben kann, wenn Kinder von einem integrativen System wechseln in eine Schule ausschließlich für Behinderte oder eine Werkstattschule. Aber das System wird immer ausgereifter.
Anne: Viele waren anfangs der Meinung, dass es sich gar nicht um pädagogische Arbeit handelt, was Schulbegleiter leisten. Woanders ist das leider immer noch so, doch in Jena hat sich mittlerweile die Wertschätzung zu unserer Arbeit gewandelt – in der Stadtverwaltung und auch im Ministerium. Ich denke, das liegt auch daran, dass wir so gute Arbeit machen und Jena sich durch die Professionalität der hier geleisteten Schulbegleitung auszeichnet.
Welche Meilensteine habt ihr zurückgelegt?
Anne: Dass meine Stelle geschaffen wurde, war schon ein Meilenstein. Das zeigt die Wertschätzung und die Bedeutung, die der QuerWege-Vorstand dem Thema damals beigemessen hat. Auch die Zusammenarbeit mit dem Bereich Jugendhilfe, insbesondere dem Integrationsdienst, hat sich intensiviert. Wir haben uns auf gemeinsame Standards und ein Aufgabenspektrum für Schulbegleiter_innen verständigt. Das war u.a. wichtig, um Gerechtigkeit für die Mitarbeitenden zu schaffen. Wir haben an der Entstehung des Integrationskonzeptes für Jena mitgewirkt und an der Einführung und Erprobung der Dokumentation zu den Hilfeplänen.
Sehr bedeutsam war unsere Mitwirkung im landesweiten Projekt »Quasi« – ein Modellprojekt zur Qualifizierung von Schulbegleitern und Schaffung von Netzwerken in Thüringen. Ich selbst war im Fachbeirat und im Dozententeam des Projektes und insgesamt haben zwölf unserer Schulbegleiter_innen an der Qualifizierung teilgenommen.
Da wir von Anfang an involviert waren, hatten wir die Chance mitzugestalten und eine hohe Qualität für die Arbeit der Schulbegleitung zu etablieren, auch landesweit. Das hat letztendlich auch das berufliche Selbstverständnis unserer Arbeit gestärkt.
Aber auch im Team hatten wir viele Meilensteine. Seit 2009 gibt es einmal jährlich ein Zusammenkommen aller Schulbegleiter_innen und Erfahrungsaustausche. Wichtig für uns war auch, dass wir seit 2009 kontinuierlich Supervision für unser Team anbieten, regelmäßige Dienstberatungen durchführen und Fortbildungen anbieten. Im letzten Jahr haben wir eine neue Software bekommen und unsere Struktur umgestellt. Wir haben Regionalteams geschaffen, deren Teamleiter_innen selbstständig den Einsatz ihrer Kollegen organisieren, die Ressourcen genau kennen und die Kolleg_innen so von kurzen Kommunikationswegen profitieren. Außerdem gibt es seit 2015 Mitarbeitervertretungen. Mhh, es war eigentlich nie Ruhe in dem Laden! (lacht)
Jeannette: Man merkt schon deutliche Unterschiede, wenn man mit Schulbegleitern spricht, die für andere Träger arbeiten! Da gibt es längst nicht die Unterstützung durch den Träger und den Zusammenhalt wie bei uns. Ein Meilenstein war da definitiv unsere neue Regionalteam-Struktur. Im Krankheitsfall können wir z.B. schnell Vertretungen im Kollegenkreis organisieren. Auch die Zusammenarbeit mit den Schulen und den Schulleiter_innen funktioniert meistens gut.
Was sind eure schönsten Erfolgserlebnisse?
Jeannette: Wenn Kinder ganz oder teilweise selbständig aus der Grundschule gehen. Ich habe bisher drei Kinder dabei unterstützt, dass sie in einem »normalen« Schulalltag Fuß fassen können. Das ist toll!
Anne: Dass wir durch unsere Arbeit dazu beigetragen haben, dass die Leistungen der Schulbegleiter anerkannt und wertgeschätzt werden und unsere Arbeit
professionalisiert wurde. Wir haben uns stets weiter entwickelt, inhaltlich und als großes Team mit tollen Mitarbeiter_innen. Darauf können wir stolz sein.
Was wünscht ihr euch für die Zukunft?
Anne: Mehr Sicherheit! Momentan können Schulbegleiter_innen wegen der Bescheide, die lediglich für ein Schuljahr gültig sind, immer nur befristet angestellt werden. Wir würden gerne langfristiger planen, um den Mitarbeitenden bessere Perspektiven bieten zu können. Ich wünsche mir außerdem, dass wir zukünftig noch mehr im Verein eingebunden sind, damit wir als QuerWege-Team zusammenwachsen. Schließlich haben wir die meisten Mitarbeitenden im Verein. Natürlich haben wir auch inhaltlich Ziele: Die stärkere Individualisierung in der Kooperation mit einzelnen Schulen. Außerdem erwägen wir eine weitere Ausdifferenzierung unseres Leistungsangebotes in der Freizeitbegleitung.
Jeannette: Wir würden uns gerne mehr in den Verein einbringen und mit unserer Arbeit präsenter sein. Außerdem wäre es schön, wenn unsere Arbeit an einigen Stellen noch mehr anerkannt wird und wir nicht als »aufgezwungen« wahrgenommen werden.
Was wäre, wenn Inklusion selbstverständlich wäre?
Anne: Dann hätten wir die Schulbegleitung in der heutigen Form erfolgreich abgeschafft! Wir würden als wichtiger, selbstverständlicher Teil multiprofessioneller Schulteams inklusiven Unterricht unterstützen. Eltern und Schüler müssten für Teilhabe keine Antrags- und Gutachtenprozeduren mehr überstehen.
veröffentlicht am 03. Februar 2016