News
Das Scheitern der Weimarer Republik als Escape-Game: Geschichtsvermittlung als Spiel mit Gegenwartsbezug
(Sorry. This content is only available in german language.)
Das Scheitern der Weimarer Republik ist ein komplexes historisches Thema, das viele Facetten und wichtige Erkenntnisse auch für die Gegenwart birgt. Daher haben sich die Geschichtslehrerinnen Victoria Lorenz und Anne Rudolph eine innovative Möglichkeit einfallen lassen, dieses Thema den Schüler*innen des 9. Jahrgangs lebendig und nachhaltig zu vermitteln.
In vielen Vorbereitungsstunden der beiden entstand ein Escape-Spiel, in dem die Jugendlichen an mehreren Projekttagen in die Rolle von Agent*innen eines US-Geheimdienstes schlüpften, die einen wichtigen Auftrag zu erledigen hatten. Dafür mussten sie verschiedene Aufgaben und Rätsel lösen und sich Wissen zu historischen Begebenheiten aneignen. Ausgestattet mit den Requisiten einer Verkleidungskiste, um das Escape-Spiel echter erscheinen zu lassen, ging es dann zurück ins Jahr 1929: Das Rätseln begann.
In ihrer Rolle als Special Agents der Geheimdienstorganisation »Black Chamber« erhielten die Schüler*innen zu Beginn des Projekts per Video einen Geheimauftrag: den Zustand der Demokratie in der Weimarer Republik und ihre Chancen zu prüfen, in dem sie spezielle Dokumente auswerten sollten. Für den US-amerikanischen Präsidenten Hoover seien diese Informationen extrem wichtig, hieß es in der Videobotschaft.
In fünf Gruppen aufgeteilt ging es dann in den nächsten Stunden darum, sich durch verschiedene Wissenseinheiten zu arbeiten, um zum Abschluss jeder Einheit einen Code zu enthalten. Die Themen, zu denen die Lehrerinnen prall gefüllte »Beweisboxen« mit verschiedenen Materialien, Texten und Quellen vorbereitet hatten, waren:
- Wahlplakate in der Weimarer Republik
- Dolchstoßlegende
- Hitler-Putsch
- Inflation
- Ruhrkrise
- Weltwirtschaftskrise
- Verfassung der Weimarer Republik
Agentenhinweise, an einer Tafel angepinnt, halfen den Teams dabei, in den nächsten Stunden alle Themen zu bearbeiten, die Dokumente zu sichten und Codes zu sammeln. Dabei hielt jedes Thema seine eigenen Herausforderungen und analoge sowie digitale Tools bereit: Beim Thema »Ruhrkrise« etwa, galt es einen QR-Code zu vervollständigen, der zu weiteren Hinweisen führte. Beim Thema Weltwirtschaftskrise kam ein UV-Licht zum Einsatz, das den gesuchten Code offenbarte, für das Thema Hitlerputsch hatten die beiden Lehrerinnen im Vorfeld ein fiktives Kneipengespräch zweier älterer Damen aufgenommen, mit dem die Schüler*innen durch genaues Zuhören das Rätsel lösen mussten, beim Thema Verfassung mussten sich die Teams durch eine non-lineare Geschichte klicken und ihr Wissen testen usw.
Zusätzlich sollten alle »Geheimdokumente« zu diesen Themen von den Teams dahingehend ausgewertet werden, welchen Einfluss das Ergebnis auf das Ansehen der demokratischen Regierung zur Zeit der Weimarer Republik hatte. Diese Auswertungen wurden schließlich am Ende der neunstündigen Projektzeit von allen zusammengeführt. In einer Podiumsdiskussion waren die »Geheimagent*innen« nämlich aufgefordert, sich zu positionieren, um ihren Auftrag abzuschließen: Welchen Einfluss hatten die verschiedenen Geschehnisse auf das Ansehen der Demokratie? Waren diese Geschehnisse in der Weimarer Republik demokratiefördernd oder -hemmend?
»Bei dieser finalen Aufgabe übten sich die Jugendlichen darin, zu einer eigenen Urteilsfindung zu kommen,« erklärte Victoria Lorenz den pädagogischen Auftrag dahinter. »Sie mussten dafür auf Grundlage der erlernten Faktengrundlage individuell eine begründete Einschätzung abgeben und gleichzeitig anzuerkennen, dass Multiperspektivität notwendig ist, um einen historischen Gegenstand vollends zu rekonstruieren und somit auch, um ein gut begründetes Urteil formulieren zu können. Also im Großen und Ganzen: Selbstständig Denken und dabei die Multikausalität historischer Ereignisse einbeziehen, die eigene Perspektive durch die Diskussion erweitern und abschließend ein gut begründetes Urteil formulieren, ob die Weimarer Republik zum Scheitern verurteilt war,« fügt sie hinzu. Neben der Vermittlung von Lehrplanwissen sei es enorm wichtig, die Jugendlichen zu befähigen, selbst hinter (falsche) Fakten zu schauen, Behauptungen im Internet, Kommentaren in den sozialen Medien eigenes Denken entgegenzusetzen. »Das schafft letztendlich den Bezug der Vergangenheit zur Gegenwart«, bringt sie eines der Kernziele des Projekts auf den Punkt. Der Anlass dafür war übrigens ein echter Tweet (1), der zu Beginn der Podiumsdiskussion eingeblendet wurde: Ein überzeugt vom Kommentator »Mori« in einer Twitter-Unterhaltung hervorgetragener scheinbarer Fakt, dem die Schüler*innen aber nun fundierte Gegenargumente entgegenzusetzen hatten. Gerade in Zeiten in denen Verschwörungstheoretiker*innen und Demokratiekritiker*innen sowie gezielte Falschnachrichten auf die Bühne drängen, sind diese Kompetenzen essenziell.
Die Schüler*innen kamen bei der finalen Positionierung schließlich zu einem geteilten Ergebnis: Nach der Diskussion tendierten einige dazu, dass die Demokratie der Weimarer Republik eine Chance hatte; andere positionierten sich unentschlossen und sahen somit gleich viele Argumente für sowie gegen die Unausweichlichkeit des Scheiterns. Der Großteil der Klasse entschied sich jedoch dazu, dass die Weimarer Republik zum Scheitern verurteilt war und begründete dies in ihrem eigenen reagierenden Tweet.
Das Feedback der Schüler*innen war für Anne Rudolph und Victoria Lorenz übrigens eine Bestätigung für ihr Unterrichts-Experiment. Der Aufwand in der Vorbereitung hat sich mehr als gelohnt. Fast alle waren mit Begeisterung dabei und wünschen sich diese Art von Wissensvermittlung öfter im Unterricht. Das Escape Spiel steht jetzt also für die nächsten 9er im neuen Schuljahr bereit.
Übrigens: Alle 35 gesammelten Codes (der 5 Gruppen und ihrer 7 Themen) führten schließlich zur richtigen Zahlenkombination für das Schloss einer Schatzkiste. Als Belohnung für diese herausfordernde Denkarbeit des Escape Spiels enthielt »Agent*innen« jede Menge Süßigkeiten. Mission accomplished!
published on 10. May 2023